Ein letzter prüfender Blick in den Rucksack. Ist alles da? Liegt alles an seinem Platz? Dann schlage ich den Deckel des Rucksacks zu und zurre mit einem kräftigen Ruck an dem kleinen Gurt den Inhalt fest. Der Stoff des Rucksacks spannt sich wie eine zweite Haut um den Inhalt. Nun ist alles sicher verstaut. Ich bin zufrieden und gebe dem Rucksack einen kleinen Klaps und schultere ihn.
Neben mir stehen Hunderte Wanderer und zurren nahezu synchron an ihren Rucksäcken, vertäuen Wasserflaschen an Gürtelschnallen, schnüren die Wanderstiefel extra fest zu, pressen Isomatten und Ersatzkleidung zu kleinen Wülsten und fiebern dem Startschuss entgegen. In fünf Minuten beginnt der Fjällräven Classic, ein Wanderlauf durch Lappland, nördlich des Polarkreises. Ins Leben gerufen vom Outdoor-Ausstatter Fjällräven, der in Skandinavien fast eine Art Kultstatus hat. 110 Kilometer sind in wenigen Tagen zurückzulegen, im Rucksack mit dabei die volle Ausrüstung von Kocher bis Zelt. Die Teilnehmer, insgesamt 2.500 in diesem Jahr, darunter überwiegend Schweden, und ich, treffen die letzten Vorbereitungen am Start in Nikkaluokta in der Nähe von Kiruna.
In der ersten Reihe tänzeln die Sportler auf der Stelle. Die Schnellsten werden nach 18 Stunden im Ziel sein. Sie werden in Turnschuhen über Geröllbrocken und Steigungen rennen und dabei wie Springböcke aussehen. Der Rest der Teilnehmer wird in überschaubaren Kilometerhappen in drei bis fünf Tagen diesen Teil des Kungsleden meistern. Der Königsweg, wie es übersetzt heißt, ist der klassische Teil des schwedischen Fernwanderweges.
Aus den Lautsprechern ertönt “Highway to Hell” von AC/DC. Der Song muss so etwas wie die weltweite Marathonstart-Hymne sein. Jedenfalls wird mir spätestens jetzt klar, dass auch ich mit sportlichen Ambitionen angereist bin. Bis vor wenigen Jahren ist es noch so gewesen, dass wer in drei Tagen Abisko erreicht, eine Goldmedaille erhält; Silber gibt es für vier Tage; Bronze bis für bis zu fünf Tagen. Zumindest in drei bis vier Tagen möchte ich es schaffen.
Tag 1: Nikkaluokta – Kebnekaise
Ein Massenstart verliert seinen Schrecken
13 Uhr, eine Schwedin durchtrennt die Absperrung. Für die zweite von drei Startgruppen an diesem Tag geht es los. Bis auf die Extrem-Läufer erobern wir im Normaltempo mit festem Stiefel-Schritt das Feld. Wie eine Welle schwappen die Teilnehmer über die einsame Landschaft. Hunderte Flaggen in orange-rot, die jeder Teilnehmer bei der Registrierung bekommt und an seinem Rucksack befestigt, leuchten durch die kargen Büsche. Ein Massenstart, den ich so nicht erwartet hätte. Aber nach wenigen Minuten hat man genug Abstand zum Vordermann um sich besser zu fühlen. Schließlich möchte man ja auch mal allein mit sich selbst sein und die Wildnis genießen.
Die Natur kann sich wohl kaum dramatischer inszenieren, als hier oben in der schwedischen Tundra: Die Seen, die Berge und die Weite – eine nordische Trilogie, die perfekt für einen Wanderlauf ist.
Mein heutiges Ziel ist der Checkpoint Kebnekaise. Die Strecke ist flach aber anspruchsvoll. Dicke Steinbrocken liegen wie durcheinander gemurmelt im Weg. Die scharfen, harten Kanten bohren sich schon nach kurzer Zeit erbarmungslos durch die Sohle. Man muss sich auf jeden Schritt konzentrieren, um nicht umzuknicken. Neben dem Weg plätschert ein Bach, klares, sauberes Wasser, niedrige Büsche säumen den Flusslauf, kleine Tannen strecken sich in die Höhe.
Zuspruch, Motivation und Blasenpflaster
Von freundlicher Wanderidylle ist nach sechs Kilometern nicht mehr bei allen viel übrig. Zwar kommt der grün-blau schimmernde See „Ladtjojaure“ mit seinem Fähranleger und dem kleinen Strand in Sicht und die ersten Wanderer machen hier eine dankbare Rast, aber Helfer verarzten auch die ersten Blasen an Füßen mit nicht eingelaufenen Schuhen. Grundsätzlich ist dieser Ort der letzte Platz für lange Zeit, an dem professionelle Helfer den Sitz des Gepäcks kontrollieren und den Vorbeiziehenden Motivation und Zuspruch zukommen lassen.
Das eigentliche Highlight an diesem See ist aber der „Lapp Danalds“. Schwedens einzige Rentier-Burger-Braterei. Samen, Nachfahren der Ureinwohner Lapplands, grillen saftige Rentierfrikadellen und servieren sie als Burger. Dieser außergewöhnliche Snack gibt so manchem Teilnehmer ein bisschen Euphorie zurück. Klar ist aber auch, die Sache hier ist anstrengend. Es fehlen noch 15 Kilometer bis zum auserkorenen Zeltplatz.
Zurück auf dem Steinparcour gibt es eine Abwechslung. Der Weg wird nicht mehr von Bäumen gesäumt, jetzt dominiert Weitsicht über den Fjäll, die skandinavische Bergtundra. Kahl, kaum bewachsen, oberhalb der Baumgrenze. Gelegentlich liegen Holzbohlen auf dem Weg, die über sumpfiges Gebiet führen und/oder die empfindliche Flora schützen sollen.
Jedenfalls stehe ich, mitten im arktischen Sommer, der sich an diesem Tag mit über 20 Grad sehr mediterran gibt, im Matsch. Weit und breit nur vom Regen der Vortage aufgeweichter Torf. Meine Bergstiefel bestehen ihren ersten Wassertest mit Bravour.
Schaut man nach oben, entdeckt man schneebedeckte Hügel. Vermutlich ein kleiner Vorgeschmack auf die Schiffsladungen Weiß, die diese Region im Winter einhüllt. Einige Wolken hängen eine Etage tiefer als normal und geben dem Ganzen einen Hauch Mystik.
Der erste Checkpoint in Kebnekaise
Hinter einer Kurve auf einer kleinen Anhöhe dann ein ungewohnter Anblick in der menschenleeren Landschaft: Der erste Checkpoint der Strecke, die Kebnekaise Fjällstation in der Nähe des höchsten Berges des Landes, dem Kebnekaise mit 2.111 Metern.
Die Station besteht aus einer kleinen Ansammlung Hütten und wirkt auf mich erstaunlich umfangreich. Es gibt Duschen und ein kleines Restaurant. Hinter dem Haupthaus versteckt sich das blaue Zelt der Fjällräven Classic-Organisatoren. In dem Zelt wird der Wanderpass zum ersten Mal abgestempelt. Das Heftchen mit kleinen Texten über die Stopps auf der Strecke bekommt jeder Wanderer vor dem Start. Die Stempel dienen zur Kontrolle, und sollen verhindern, dass niemand im Feld verloren geht oder sich Kilometerschummler untermischen.
Etwa alle 20 Kilometer gibt es so einen Checkpoint, an dem Gaskartuschen- und Nahrungsnachschub ausliegen, darunter gefriergetrocknete Outdoor-Eintöpfe mit Hühnchen-, Rind- oder Schweine-Fleisch, Brot und Frühstücksmüsli. Alles in der Startgebühr enthalten und geschmacklich gar nicht so verkehrt.
Bei meiner Ankunft erreicht auch gerade der Notfall-Helikopter der Luftrettung das Lager. Eine junge Frau hat sich am Fuß verletzt und muss von einem Arzt behandelt werden. Die zahlreichen Helfer vor Ort organisieren das im Ernstfall sehr professionell und schnell. Der Hubschrauber ist die einzige Möglichkeit anders als zu Fuß aus der Region zu kommen.
Zwischenziel erreicht
Weil ich weitergehen mag, nehme ich noch ein paar Extra-Meter auf mich und verlasse die Kebnekaise Fjällstation. Es ist mir etwas zu voll. An den schönsten Plätzen stehen bereits Zelte der Wanderer, die in der ersten Startgruppe losgelaufen sind und es bis hier geschafft haben. Am ersten Tag möchte ich lieber fernab des Wanderweges nächtigen und die Einsamkeit des Fjälls genießen.
Nach weiteren 4 Kilometern ist das Zwischenziel erreicht: Das ideale Nachtlager. Direkt neben einem kleinen Bach mit frischem Gletscherwasser baue ich mein Zelt auf. Gerade diese Nähe zur Natur macht den Fjällräven Classic so besonders. Fast überall auf der Strecke darf man sein Quartier aufschlagen.
Diese Freiheit bietet kaum ein anderes Land. Einzige Einschränkung: Im Abisko National Park, dem letzten und landschaftlich wunderschönen Teilstück der Strecke, ist Zelten auf bestimmte Bereiche reduziert. Unterwegs trinke ich das Wasser aus den Bächen, so rein, so klar und so kalt wie eine Handvoll Eiswürfel.
Der Preis der Idylle
Nachdem Zeltstangen montiert sind und Heringe fest im steinigen Boden stecken, sitze ich müde und wie ein Vorzeitmensch am Gaskocher statt ums Feuer. Im Topf köchelt der erste Outdoor-Eintopf, angerührt mit frischem Gletscherwasser.
Gelegentlich ziehen durch die Dauerdämmerung, die sich im lappländischen Sommer Nacht nennt, die Konturen anderer Wanderer vorbei. Auf dem Berglauf bestimmt jeder Teilnehmer sein eigenes Tempo. Einige gehen die ganze Nacht durch und rasten nur für wenige Stunden. Ich denke nicht ans Weiterwandern und stakse mit steifen Beinen ins Zelt.
Tag 2: Kebnekaise – Sälka
Immer weiter
Der nächste Tag beginnt um halb sechs. Hinter mir liegen sechs Stunden wunderbaren Halbschlafs – der Preis der Idylle, einer flatternden Zeltplane, eines laut plätschernden Baches und der fehlenden Schwärze der Nacht. Trotzdem fällt das Aufstehen leicht. Vor Aufregung, Vorfreude auf landschaftliche Überraschungen – oder schlicht dem Respekt vor den noch fehlenden Kilometern bis zum Ziel in Abisko.
Es war eine gute Idee den Tag so früh zu beginnen. Mein Zeltplatz liegt auf einer kleinen Anhöhe, auf die nun die ersten Sonnenstrahlen treffen. Die Wärme auf der Haut zu spüren ist so etwas wie der perfekte Wake-up-Call. Ich bin bereit für die nächste Etappe. Das Tagesziel für heute ist die Station in Sälka. Damit überspringe ich den Stop in Singi. Sollte aber kein Problem werden, weil es bis Sälka nur etwas mehr als 25 Kilometer sind.
Tatsächlich werde ich von dem Gelände überrascht. Zwar öffnet sich zu Beginn das grüne, flache Tal und erinnert gar ein wenig an die saftigen Wiesen der Alpen, aber der Starkregen der vergangenen Tage hat die weite Ebene zu einer knöcheltiefen Seenlandschaft mutieren lassen. Der Weg führt über schmale Holzplanken talaufwärts. Majestätisch umschließen zwei große Bergrücken zu beiden Seiten den weiteren Weg nach Singi. Es geht im Entenmarsch mit anderen Teilnehmern entlang der abgesteckten Route auf halber Höhe am Berg entlang. Im Tal winden sich die langgezogenen Seen, die in der Sonne tiefblau leuchten.
Der zweite Checkpoint in Singi
Kurz vor Singi wird es dann wieder heller. Die Berge halten Abstand. Der Weg führt leicht bergab durch ein anschließendes Tal, vorbei am Kebnekaise. Der Checkpoint in Singi ist der erste Halt, an dem die Läufer mit einer frischen Mahlzeit bekocht werden. Es gibt Rentier-Wrap mit Preiselbeersoße und Kartoffelpüree. Die netten Helfer empfangen alle Ankömmlinge mit einem fröhlichen „Hejhej“ und halten gleich einen vollen Teller hin. Noch nie war ich so dankbar für einen Imbiss.
Das Wetter lädt förmlich dazu ein, sich ein schönes Plätzchen zu suchen. Um mich herum sitzen Menschen im Gras, lehnen an Felsbrocken und unterhalten sich. Wer Hilfe braucht findet bei Mitreisenden Unterstützung. Für mich geht es nach einstündiger Rast weiter. Bisher habe ich erst 10 Kilometer hinter mich gebracht und ich fühle mich noch fit, den 15 km entfernten Checkpoint in Sälka zu erreichen.
Im Land der Brücken
Der nächste Streckenabschnitt ist mir als Weg der Brücken in Erinnerung geblieben. Es wird den ganzen Tag immer wieder über Hängebrücken gehen. Ist auch besser so, denn die vielen Bergbäche können ganz schön reißend sein. Manchmal braust das Wasser beeindruckend schnell durch das Flussbett wenn es sich über Jahrtausende hinweg seinen Weg in den schwedischen Granit geschliffen hat.
Daß man sich auf der bisherigen Strecke immer weiter in die Höhe geschraubt hat, kann man gut daran erkennen, dass links und rechts die ersten Schneefelder auftauchen. Viel Schnee ist es nicht, aber auch für die Schweden bleibt dies in diesem Jahr eine ungewöhnliche Erscheinung. Üblicherweise taut der Schnee bis Mitte Juli vollständig ab und macht den Weg frei für die Rentiere. Bisher haben sich aber nur vereinzelte Rentier-Herden zurück in die Region getraut.
Der dritte Checkpoint in Sälka
Der Checkpoint Sälka ist sehr gut ausgebaut. Es gibt einen Kiosk und eine Sauna (mit Holz zum Selberhacken). Wer Appetit auf eine kulinarische Abwechslung hat, wird im Kiosk, der an einen gut sortierten Tante-Emma-Laden erinnert, fündig. Ich entscheide mich für ein Dosenbier. Wohlwissentlich, dass ich die leere Bierdose bis zum Ziel mit mir herumtragen werde. Und obwohl ich mich auch auf eine Packung Kekse gefreut habe, muss mir mein mitgebrachter Proviant genügen. Der Asiat vor mir in der Reihe hat das letzte Päckchen weggekauft.
Morgen steht die Überquerung des Tjäktja-Passes auf dem Programm. Es ist die einzige ernstzunehmende Steigung auf der Wanderung und deshalb möchte ich mir eine taktisch gute Ausgangslage verschaffen und noch etwas dichter an den Fuß des Passes herangehen.
Allerdings verschlechtert sich der Weg ab Sälka deutlich. Ich behaupte sogar, dass der Weg teilweise verschwindet. Bis zum Horizont sind nur noch Geröllmassen zu erkennen. Jeder Schritt auf den spitzen Steinen ist ein Balanceakt. Mein Tempo verlangsamt sich enorm.
5 Kilometer hinter Sälka, unmittelbar an einem kleinen See, schlage ich zum zweiten Mal mein Quartier für die Nacht auf. Es ist ein guter Platz mit frischem Wasser und einem sehr schönen Blick hinunter in das langgestreckte Tal. Leider finden auch Mücken diesen Platz ziemlich gut. Das merke ich aber erst nachdem ich mein Zelt aufgebaut habe. So hocke ich an diesem Abend im Gras, habe Moskitoschutz-Salbe in allen Poren verteilt und verteidige mein Blut gegen unzählige dieser Plagegeister.
Tag 3: Sälka – Alesjaure
Vom Winde verweht
Ich schnüre meine Boots, schultere den Rucksack, nicke den freilaufenden Rentieren auf der Grünfläche hinter mir zu und gehe los. Die Wolken hängen tief und ein unangenehmer Regen setzt ein. Meine Regenjacke und -hose sowie die Gamaschen sind jetzt unbezahlbar. Der felsige Untergrund macht das Weiterkommen etwas schwieriger. Am Horizont lässt sich die Stelle ausmachen, an der die Bergkette überquert wird.
Zum ersten Mal frage ich mich, was ich hier mache. Ich gehe gerne wandern, doch ein nicht unerheblicher Reiz daran ist das Einkehren am Abend und die netten Gesprächen unterwegs. Bei schlechtem Wetter während des Fjällräven Classic ist das was anderes: Der Wind kann eisig werden und der Regen kommt von allen Seiten. Meine Gedanken fliegen in die Ferne, zu all den schönen Dingen auf die ich mich nach dem Lauf freue. Mit dieser Motivation geht es die nächsten Kilometer bergauf.
Kurz vor dem Pass verdichten sich die Teilnehmer. Durch die langsamere Fortbewegung an dem steilen Hang, verkürzen sich die Abstände zueinander. Aber es ist weniger schlimm als angenommen. Trotz der Steigung lässt sich der Tjäktja-Pass gut überwinden. Nimmt man sich ausreichend Zeit langsam zu gehen, schafft man ihn ohne große Pause. Und der Blick von hier oben ist wirklich etwas Besonderes; Erleichterung breitet sich in mir aus.
Mit dem Pass lasse ich nicht nur eine Landschaft hinter mir, sondern auch eine Wetterzone. Die Wolken verdichten sich zunehmend. Sie schieben sich regelrecht am Bergkamm zusammen. Schon auf den letzten Aufstiegsmetern fängt es an zu schneien. An der Spitze angekommen, geht der Schneeregen allmählich in echten Schnee über.
Der vierte Checkpoint hinter dem Tjäktja-Pass
Der anschließende Weg über ein Felsenmeer scheint unendlich zu sein. An einen markierten Pfad ist hier nicht zu denken. Ich hangel mich von Stein zu Stein. Der nächste Checkpoint in Tjäktja liegt wieder tiefer, so dass nach der Hochebene nun das Fjäll-typische, bewachsene Gelände zurückkehrt.
Der Fluss, der mich von der nächsten Station trennt, ist eine Herausforderung. Dank tagelangem Regen ist der Wasserpegel angestiegen. Die großen Steine auf die man sonst treten kann, um trockenen Fußes auf die andere Seite zu kommen, sind überflutet. Neben mir steigt ein Japaner wagemutig in den Fluss. Er scheint keine großen Bedenken zu haben. Eventuell hat er es mit der Vorbereitung aber auch ansonsten nicht so ernst genommen: Seine Hände sind mit Plastiktüten gegen den eisigen Wind geschützt. Vielleicht hat er aber auch nur seine Handschuhe irgendwo verloren. Zum Glück wartet auf der anderen Seite ein heißer Kaffee und Schokoladenkuchen auf uns.
Ab jetzt geht es abwärts
Trotz der liebevollen Verpflegung halte ich mich am Checkpoint Tjäktja nur kurz auf. Auch wenn die Zeit nicht drängt, lädt der Platz nicht zum Verweilen ein. Mangels schützender Felsen, hocke ich wie ein Kaninchen in einer winzigen Erdmulde und lasse den Wind über mich hinwegpfeifen. Bevor ich hier oben erfriere, mache ich mich auf den Weg ins Tal. Das nächste Ziel, der Checkpoint Alesjaure, ist rund 12 Kilometer entfernt. Glücklicherweise lichtet sich die Wolkendecke und macht Platz für den einen oder anderen Sonnenstrahl.
Der fünfte Checkpoint in Alesjaure
Am Horizont ist bereits der große See, an dessen Ufer das nächste Nachtlager liegen soll, zu erkennen. Kurz vor Ankunft ist der Blick perfekt: Über den Fluss, der hier in den See mündet, erstreckt sich eine der längsten Hängebrücken der Wanderung. Auf der anderen Seite erheben sich auf einem Hügel die Hütten der Station wie eine Burg. Alesjaure besitzt den Ruf eines komfortablen Nachtlagers mit gut bestückter Proviantstation – inklusive Sauna, in der das Wandervolk selbst gehacktes Birkenholz nachlegt.
So verlockend das Angebot ist, es sich in einer vorgeheizten Sauna bequem zu machen, entscheide ich mich vor dem Schlafengehen für ein richtiges Abendessen. Schließlich bietet der Herbergsvater schwedische Hotdogs vom offenen Feuer mit Rentierwurst und Kartoffelpüree an.
Tag 4: Alesjaure – Abisko
Die Station Alesjaure, in 778 Meter Höhe, bietet nicht nur eine bequeme Übernachtungsmöglichkeit, sondern ist auch eine psychologisch wichtige Entfernungsmarkierung: 74 Kilometer sind seit dem Start in Nikkaluokta zurückgelegt. Der schwerste Teil ist geschafft.
Strand in Sicht
Und der schönste Streckenabschnitt liegt nun vor mir. Der Strand Nordschwedens, wie er auch bezeichnet wird, beginnt wenige Meter hinter dem Checkpoint und erstreckt sich entlang einer 10 Kilometer langen, wunderschönen Seenlandschaft. Der Anblick flacher, feiner Kiesstrände, umrahmt von prächtigen Berggipfeln, sorgt für ausgelassene Stimmung und der gut begehbare Uferweg wird zur Leichtigkeit.
Mit den letzten Blicken auf den See windet sich der Weg ab hier langsam von den Hochebenen runter in Richtung Kieron. Der enge Pfad schlängelt sich um den Berg „Kartinvare“ auf der linken Seite. Der Abstieg ist nicht sonderlich schwierig aber lang. Viele Wanderer bekommen in diesem Teilstück Knieprobleme und müssen viele kleine Schritte machen um die Gelenke zu entlasten.
Der sechste Checkpoint in Kieron
Die nächste Station liegt wieder unter der Baumgrenze. Zahllose kleine Birken strecken sich auf der Wiese gen Himmel. Der Checkpoint Kieron ist erreicht und auch hier begrüßen die freiwilligen Helfern jeden Ankömmling sehr herzlich. Es ist Nachmittag und ich bin froh, dass ein Großteil der Strecke hinter mir liegt. Zum ersten Mal darf ich mir im blauen Fjällräven-Zelt den Kontrollstempel alleine in den Hiking-Pass eintragen.
Der frischgebackene Stapel Pfannkuchen mit Preiselbeersoße und Schlagsahne motiviert mich zu der Entscheidung, die letzten 16 Kilometer bis zum Ziel noch am selben Tag in Angriff zu nehmen. Außerdem liegt nun der Abisko-Nationalpark vor mir. Die Strecke soll ab jetzt so leicht wie eine Autobahn zu begehen sein.
Nach kurzer Rast klopfe ich mir den Schmutz vom Rucksack, greife nach den Wanderstöcken und gehe los. Im Nationalpark werde ich kurz sentimental als ich an dem einzigen, offiziellen Schlafplatz vorbeikomme. Der See „Abiskojaure“ und die Herberge mit umliegendem Platz für Zelte werden so herrlich von der untergehenden Sonne bestrahlt, dass ich mir eine weitere Pause selber untersagen muss. Schließlich möchte ich noch heute ins Ziel kommen.
Die letzten Stunden und Kilometer bis Abisko vergehen schnell. Es kommen mir schon Tagesausflügler entgegen. Die Zeichen mehren sich: Es ist bald geschafft.
Das Ziel in Abisko
Das Ziel kommt in Sicht, 200 Kilometer nördlich des Polarkreises. Nach 110 Kilometern empfängt mich am Zieleinlauf rhythmisches Klatschen der „Finisher“ und rustikale Party-Atmosphäre im “Treckers Inn” zurück in der Zivilisation.
Gerührt und stolz auf mich hole ich mir Medaille und Zeit ab. Am Ende sind es 81 Stunden. Die schnellsten Läufer sind zu diesem Zeitpunkt schon 63 Stunden zu Hause.
Hinweis: Wer Hilfe bei der Auswahl des richtigen Zeltplatzes braucht, kann hier meinen Beitrag über die 10 besten Zeltplätze auf dem Fjällräven Classic lesen.